Kenianische Großstadtpoesie

Kenianische Großstadtpoesie

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Eine neue, politisch versierte Generation kenianischer Spoken Word Poet_innen entsteht. Ihre Gedichte sind befreiend und jenseits religiöser und klassistischer Grenzen verbindend: Balsam für die von Terror geschundene Seele Kenias?

Dorphan bei seiner Performance. Foto: Mum aliishia

Es fängt an zu regnen und die Gruppe um Poeta Dennis begibt sich unter ein Schutz bietendes Vordach. Plötzlich gibt es einen lauten Knall. Lächelnde Gesichter, eben noch durch poetische Wortspiele verzaubert, erstarren. Es herrscht Unsicherheit. Schon wieder ein Terroranschlag? Tief sitzt noch der Schock von Garissa. 148 Opfer starben offiziell Anfang April bei dem Terroranschlag auf die Universität im Norden des Landes. „Es war nur ein geplatzter Reifen,“ beruhigt Poeta Dennis und macht einen Witz über die Terrormiliz Al-Shabaab. Die Menge entspannt sich, es geht weiter.

Jeden dritten oder vierten Sonntag trifft sich die Spoken-Word-Szene Nairobis nachmittags für einige Stunden am Aga Khan Walk zu „Street Poetry Nairobi“. Spoken-Word-Poetry spielt in den Kunst- und Kulturkreisen der kenianischen Hauptstadt eine wichtige Rolle. Schon seit mehr als zehn Jahren existiert die Szene.

Spoken Word ist befreiend. Es ist frei und grenzenlos. Es ermutigt zum eigenständigen Denken und Reflektieren, überwindet religiöse und klassistische Grenzen, schafft einen Raum, in dem es für gesellschaftliche Spalterei keinen Platz gibt. Das gesprochene Wort verbindet. Vielleicht sind gerade diese Eigenschaften in Zeiten wichtig, in denen der Terror versucht, die kenianische Gesellschaft anhand von Christentum und Islam blutig auseinander zu treiben.

Le Chatelier, neben Poeta Dennis Moderator des heutigen Events, verkörpert genau diese Werte in seiner Kleidung: Er trägt einen weißen Kanzu, eine Art Tunika, die in Kenia besonders von Muslimen getragen wird, in Kombination mit einer schwarzen Baseballcap. Auf ihr prangt ein reichlich verziertes, weißes Passionskreuz. Es mag Zufall sein oder ein bewusst gesetztes Zeichen. In Zeiten wie diesen, so oder so, eine wichtige Botschaft.

Goofy (Mitte) umgeben vom Publikum. Foto: D. Koßmann
Goofy (Mitte) umgeben vom Publikum. Foto: D. Koßmann

Street Poetry, das sind Geschichten erzählende Gedichte, aufrüttelnde, bestürzende, politische Reime. Manchmal regen sie auch zum Lachen an. Manche handeln von Alltäglichkeiten. Es ist mehr als nur das fahle Ablesen niedergeschriebener Gedanken. Street Poetry ist eine Performance, die den öffentlichen Raum zurückerobert und ihn dem Publikum wiedergibt. Der urbane Menschenstrom wird für einen Moment unterbrochen, Passant_innen ganz unverbindlich zum Stehenbleiben, Niedersitzen und Zuhören eingeladen. Es ist eine öffentliche Bühne für moderne Poesie.

Ich lerne Dorphan eines Abends im Phoenix Players-Theater kennen. Einmal im Monat organisiert hier das Literaturnetzwerk Kwani? eine Open-Mic-Veranstaltung. Als Dorphan die Bühne betritt und sein Stück „Mum aliishia“ beginnt, wird das gesamte Publikum auf einmal still. Dieser junge Poet, mit seinem markant-eckigem Gesicht, geziert von einer auffälligen Narbe auf der rechten Stirnhälfte, zieht das Publikum in seinen Bann: literarische Sogwirkung, poetischer Strudel. „Mum aliishia“ ist Sheng, eine besonders unter jungen Leuten beliebte Sprache Kenias, die auf Kiswahili und Englisch basiert. Übersetzt lautet das Gedicht: „Mama starb“.

Dorphan, der mit echtem Namen Dennis Mutuma Mutua heißt, kommt eigentlich aus Timau, einem Dorf in Meru County. 2010 begann er mit Spoken Word. Heute ist Dorphan Bandleader, Poet und Mentor für den Nachwuchs. Mit seinen 26 Jahren strahlt er eine Tiefsinnigkeit und Ernsthaftigkeit aus, die viele seiner Altersgenoss_innen wie ein leeres Blatt Papier aussehen lässt.

„Mum aliishia“ ist keine erfundene Geschichte, sondern die bittere Lebensrealität eines jungen Mannes, dessen Mutter ihn eigentlich abtreiben wollte, doch die Kraft behielt, ihn zur Welt zu bringen. Es ist die Geschichte eines Sohnes, der bei seinen Großeltern aufwuchs und seinen Vater nur kennenlernte, wenn dieser ihn schlug. Es ist die Geschichte eines Vollwaisen, der es aufgegeben hat, nach dem Todesgrund seiner Mutter zu fragen, weil er ihn nicht erfahren wird. Es ist eine Lebensgeschichte, die ganz anders hätte verlaufen können. Wäre da nicht die Kunst gewesen. Die Kunst und das Talent, Worte formen zu können.

Le Chatelier bei Moderation. Foto: D. Koßmann
Le Chatelier bei Moderation. Foto: D. Koßmann

Beinahe 80 Prozent der kenianischen Bevölkerung ist laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinigten Nationen jünger als 35 Jahre. Spoken Word Poetry erreicht vor allem diese jungen Menschen, die politisch keinen großen Einfluss haben. Spoken Word ist für sie eine Möglichkeit, die eigene Meinung öffentlich zu artikulieren. Für viele steht die Botschaft im Vordergrund. Sie sprechen aus ihren eigenen Erfahrungen, von dem, was sie im Leben inspiriert, aber auch von dem, was sie wütend macht.

Es ist kühler geworden. Am Himmel kreist ein großer Vogelschwarm und die Sonne geht so langsam unter, taucht Nairobi in dämmerndes Licht. Street Poetry, im Licht der blauen Stunde.

„Ist Poesie auch Politik?“ frage ich Dorphan. „Ja!“, schießt es aus ihm raus. „Politik ist das Leben!“ Mehr junge Menschen müssen sich für Politik interessieren, denn „letzten Endes beeinflusst dich das politische Geschehen in deinem Leben, ob du es willst oder nicht. Kunst soll für bequeme Menschen unbequem und für unbequeme Menschen bequem sein. Kunst soll sie aus ihren Komfortzonen holen.“ Aber wie lässt sich damit ein Leben in einem Land finanzieren, das für seinen Ellbogenkapitalismus bekannt ist?

„Es ist hart, ein Künstler in diesem Teil der Welt zu sein. Und es ist noch härter, ein Spoken-Word-Poet zu sein,“ klärt mich Dorphan auf. „Spoken Word ist ein recht neues Phänomen und es gibt immer noch Leute, die Spoken Word nicht als ebenbürtige Kunstform ansehen. Aber immerhin kann ein Poet mittlerweile etwas Geld verdienen. Vielleicht nicht so viel, wie manche möchten und gewiss nicht so viel, wie ein Musiker, aber den Punkt erreichen wir noch.“ Tatsächlich sieht es gut für die Szene aus: Die Medien zeigen Interesse, Events sind ausverkauft, Veranstaltungen werden zu Trending Topics auf Twitter.

Heute geht es allerdings um etwas anderes. Street Poetry Nairobi ist keine kommerzielle Veranstaltung. Kein Eintritt, keine Gage. Ruhm und der Applaus von 50, mal 100, manchmal gar 200 Leuten sind Entlohnung genug.

Autor: Daniel Koßmann