Bildung ohne Bücher

Bildung ohne Bücher

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Der Mann auf der Bühne reißt die Augen auf und brüllt: „Bam! Bam! Bam!“ Er duckt sich weg, als ginge er vor Kugeln in Deckung, und ahmt mit zitternder Stimme Rufe von Kindern hinter einer Mauer nach: „Komm zu uns, Madame Kambou, komm zu uns!“ Der Mann richtet sich auf, hält kurz inne, lässt seine Stimme in Basslage absinken und füllt sie mit Ergriffenheit: „Doch Madame Kambou ging trotz der Kugeln hinaus auf die Straße und suchte für ihre Waisenkinder einen Sack Reis.“

Vor der Bühne kauern Kinder auf einem staubigen Platz und starren hinauf zu dem Geschichtenerzähler. Die Ältesten in ihren bunten Gewändern und bestickten Käppis sitzen wie festgenagelt in einer Reihe auf Plastikstühlen, hinter ihnen steht eine Menge, so groß, dass der Lichtkegel der Scheinwerfer sie nicht ganz erfassen kann.

„Sollten die Kinder etwa verhungern, frage ich Euch?“, braust der Geschichtenerzähler nun so sehr auf, dass selbst die Ältesten zusammenzucken. „Sollten sie etwa verhungern?“, wiederholt er. Die Kinder rufen: „Neeein!“

„56 Waisenkinder versorgt Madame Kambou“, spricht der Erzähler weiter – und etwas leiser. „56!“ Kunstpause. „Das sind mehr als fünf Fußballmannschaften!“ Die Kinder lachen. Die Ältesten auch. Nach der Geschichte über Madame Kambou folgt eine über einen Schulrektor, der den Streit zwischen nomadischen Viehzüchtern und Bauern schlichtet, wenn die Kühe der Nomaden die Felder der Bauern zertrampelt haben. In jeder Geschichte geht es um Menschen, die Beispiel geben, die Konflikte mit friedlichen Mitteln lösen. Die Helden in den Storys vermitteln zwischen verfeindeten Gruppen, bilden ehemalige Kämpfer zu Handwerkern aus oder setzen sich für politische Gefangene ein. Es sind Engagierte aus der Zivilgesellschaft, die weder Macht noch Waffen haben – genau wie diejenigen, die gebannt dem Geschichtenerzähler lauschen.

Doch gerade auf diesen Menschen liegt die Hoffnung für die Zukunft des Landes. Die Elfenbeinküste ist vier Jahre nach Ende eines blutigen Bürgerkriegs weiter zerrissen. Die ersten Präsidentschaftswahlen bringen nun eine Chance auf einen Neuanfang – vorausgesetzt, sie münden nicht in eine neue Runde der Gewalt in diesem fünftärmsten Land der Welt, in dem nur die Hälfte der Bevölkerung lesen und schreiben kann.

KONTINENT DER MÜNDLICHKEIT

Zeitungen sind ein Medium der Eliten in der Stadt. Auf dem Land hat niemand einen Fernseher. Stellt sich ein Reisender vor, fragt das Familienoberhaupt zuerst: „Et les nouvelles?“ – „Und die Neuigkeiten?“ Es herrscht Informationspflicht für Reisende im ländlichen Afrika, und das Erzählen hat in Westafrika eine lange Tradition: „Griots“ heißen die Barden, die seit Jahrhunderten die Annalen von Generation zu Generation tragen. Manchmal reicht die mündliche Überlieferung der Stämme bis zurück zu den alten Königen der Tuaregs in der Sahara. Aber solch traditionelle „griots“ gibt es heute nur noch wenige. Ihre Kunst lebt in modernen Formen weiter. Rapper, Erzähler und Spaßmacher im Fernsehen und auf Kindergeburtstagen – sie alle verstehen sich als „maîtres du mot“, Meister des Worts. Denn Afrika ist ein Kontinent der Mündlichkeit. Schulkinder auf dem Land haben kaum Hefte und Bücher. Sie lernen übers Hören und Nachsprechen. Nicht nur in Abidjan, der größten Metropole der Elfenbeinküste, sondern auch in den abgelegenen kleinen Städten quasseln die Menschen an jeder Ecke in ihre Mobiltelefone; aber wehe, man erhofft sich Antwort auf eine E-Mail: Selbst bei Adressaten mit ständigem Internet-Zugang ein Rufen in die Wüste.

ROADSHOW FÜR DEN FRIEDEN 

„Wir machen uns diese mündliche Tradition zunutze“, erklärt Tilman Wörtz, 37, Journalist und Projektleiter der Initiative „Peace Counts“, die weltweit Friedensprozesse in Konfliktregionen unterstützt. Zunächst trainierte Wörtz ein Dutzend ivorischer Journalisten, recherchierte und fotografierte mit ihnen Geschichten, die zeigen, dass Menschen überall im Land am Frieden arbeiten, egal welcher Volksgruppe oder Religion sie angehören. Die Reportagen wurden von einheimischen Zeitungen veröffentlicht. Um auch die Menschen auf dem Land zu erreichen, entwickelte das deutsch-ivorische Team um Tilman Wörtz die Idee der Roadshow mit dem Geschichtenerzähler Fortuné.

Ein Laster, ein Geländewagen und zwei Kleinbusse transportieren Erzähler, Moderator, Radiotechniker, Assistenten, Musiker und Tänzer samt Equipment. Der Konvoi startet im Norden, in Korhogo, bewegt sich von dort langsam nach Bouaké im Zentrum der Elfenbeinküste, dann nach Westen, 2 800 Kilometer insgesamt. Die Auftritte werden im Radio übertragen, im landesweiten Sender RTI auf Französisch und in lokalen Sendern in der einheimischen Sprache. Zum ersten Mal kooperiert der Regierungssender RTI auch mit den Radiostationen der Rebellen im Norden.

Der Geschichtenerzähler von „Peace Counts“ ist in seiner Hauptbeschäftigung Schauspieler der Seifenoper „Quoi de neuf?“ („Was gibt’s Neues?“), den in der Elfenbeinküste jeder kennt. Vor seinen Auftritten in den Dörfern ziehen Jungs mit Megafonen durch die Straße und werben um Zuhörer: „Heute Abend, Mesdames et Messieurs, präsentieren wir eine Sensation – aber verratet es niemandem weiter: Der berühmte Schauspieler Fortuné kommt um sieben Uhr auf den Platz der Republik!“

IN DER SPRACHE DES VOLKES 

Um sieben ist dann freilich noch niemand auf dem Platz. Lautsprecherboxen müssen erst Musik in die Nachbarschaft brüllen. Nach einer Stunde drängen sich schließlich tausend, zweitausend Menschen im Halbkreis um die Bühne, hungrig nach neuen Eindrücken, von denen sie in ihrer medienfreien Zone so wenige bekommen.

„Ihr wisst, dass ich gerne Witze mache“, eröffnet Fortuné seine Auftritte und gibt zunächst den Scherz über den Bauern zum Besten, der beim Maniokernten sein bestes Stück abhackt. „Aber heute Abend möchte ich Euch von ernsten Dingen erzählen“, fährt er fort und die Aufmerksamkeit ist ihm sicher. „In den sogenannten Parlamenten – wisst ihr’s noch? – da wurde gegen politische Gegner gehetzt, da wurden Minderheiten ausgegrenzt, Menschen, die schon lange in der Elfenbeinküste leben, Senufo, Yacouba, Wê.“

Fortuné redet nicht wie ein Hochschulprofessor. Er verwendet keine abstrakten Wendungen der akademischen Entwicklungshelfer, nie würde er von „Synergien zwischen Nomaden und Bauern“ sprechen. Stattdessen spielt er den Menschen eine Kuh vor, die ihren Fladen auf ein Feld fallen lässt und es dadurch düngt: „Nomaden und Bauern brauchen einander! Sollen doch die Bauern das Vieh der Nomaden auf die Felder lassen, die brach liegen! Dann ist allen gedient. Dann brauchen sie einander nicht mehr umzubringen. Stimmt doch, oder?“ – „Jaaaaa“, rufen die Kinder.

JEDE GESCHICHTE BRAUCHT EINE MORAL 

Neben seiner Stimme ist Fortunés wichtigstes Instrument sein Zeigefinger. „Auch ihr könnt so sein wie Madame Kambou!“, herrscht er das Publikum an, „egal was jemand beruflich macht: Jeder kann helfen! Auch Du! Du und Du!“ Sein Zeigefinger sticht auf Einzelne in der Menge ein.

Europäische Zuschauer mögen das als zu emphatisch empfinden. „Ich hatte am Anfang Bedenken, dass Fortuné zu sehr dramatisiert, zu sehr moralisiert, statt Informationen zu vermitteln“, gibt Projektleiter Wörtz zu. Doch Fortuné lachte nur über seinen Einwand. „Eine Geschichte ohne Moral? Jede Geschichte braucht eine Moral. Zumindest in Afrika!“ Auch den Zeigefinger und das Brüllen wollte er nicht lassen. „Ihr Europäer seid zimperlich! Für Afrikaner sind das keine aggressiven Gesten. Die Leute wollen diese Eindeutigkeit!“

Der Erfolg gab Fortuné Recht. Die Friedens-Shows wurden nicht nur in den Dörfern gefeiert, sondern landesweit im Radio übertragen und erreichten eine Breitenwirkung, die sämtliche Erwartungen übertraf.


2009 wurde „Peace Counts“ für seine unkonventionellen didaktischen Ansätze mit dem Peter-Becker-Preis der Universität Marburg ausgezeichnet.

Text: Andreas Lenz, Fotos: Macline Hien

Bilfinger Berger Magazin 1/2011

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