Tunesien wählt!
Umbruchstimmung in Tunesien: Am Sonntag, den 26. Oktober, fiel der Startschuss für die ersten parlamentarischen Wahlen seit dem arabischen Frühling. Wird es die neue Regierung schaffen, ein beständiges, demokratisches System aufzubauen?
Am vergangenen Sonntag öffneten sich Tunesiens Wahllokale für mehr als 5,2 Millionen Einwohner_innen. Bereits am Abend verzeichnete die Wahlkommission Isie eine Wahlbeteiligung von fast 60 Prozent. Unglaubliche Zahlen spiegeln das politische Interesse der Tunesier_innen wieder: Zu den Parlamentswahlen haben sich ungefähr 13.000 Kandidat_innen auf 1.300 Wahllisten in 27 Wahlbezirken Tunesiens aufstellen lassen. Diese Zahlen kommen allerdings auch durch ein offenes System zustande, in dem Listenplätze an prominente Persönlichkeiten eines Wahlbezirks vergeben werden. Lediglich zwei Drittel der Kandidierenden sind durch Parteimitglieder vertreten. Für einen der 217 Sitze im Parlament kandidieren außerdem Kandidat_innen aus sechs Auslandswahlbezirken. Insgesamt verlief die Wahl friedlich und die befürchteten Anschläge von Extremist_innen blieben aus.
Beinahe vier Jahre sind seit der Revolution im Frühjahr 2011 vergangen. Mit der globalen Protestbewegung des arabischen Frühlingsendete das diktatorische Regime von Tunesiens Staatschef Ben Ali im Einparteiensystem. Seither erarbeitete die vorübergehend gewählte Nationale Verfassungssammlung eine neue Verfassung, die eine ausgeglichene Gewaltenteilung sicherstellen soll. Mithilfe von außerparlamentarischen Vermittlungen gelang es Anfang 2014, in einer mehrheitlichen Abstimmung einen Verfassungsentwurf zu verabschieden. Daraufhin wurden zum zweiten Mal in der Landesgeschichte freie demokratische Wahlen eingeleitet. Das Umdenken in der Politik ist offensichtlich. So war beispielsweise Hama Hamami, Sprecher der ehemaligen kommunistischen Partei, über 15 Jahre politisch begründeter Haft und Folter ausgesetzt. Gegenwärtig steht er als Vertreter an der Spitze der Volksfront.
In der jungen Demokratie manifestierte sich bereits vor der Wahl ein Gleichgewicht zwischen Parlament und präsidialem Einfluss. Setzt die momentan offenbar stärkste Partei Nida Tounes eher auf präsidiale Kompetenzen, so befürwortet die islamistische Ennahda Partei ein parlamentarisches System. Ihnen wird der meiste Anteil der Sitze prognostiziert. Während die Ennahda Partei bekannt gab, sich nicht vorzeitig zu den Ergebnissen zu äußern, wähnen sich die Nida Tounes bereits als Sieger des Wahlkampfs. Béji Caïd Essebsi, Vorsitzender der Nida Tunis, sagte nach Schließung der Wahllokale, er sehe „gute Anzeichen“ für einen Sieg gegen die Islamisten. Dies bestätigten veröffentlichte Teilergebnisse am Montagmorgen. Demnach soll seine Partei mehr als 80 Sitze im Parlament gewonnen haben.
Viele kleinere Parteien, die bereits vor 2011 existierten, formierten sich für den Wahlkampf neu. Zahlreiche Parteien wurden im Laufe der letzten drei Jahre neu gegründet. Sie standen vor der Herausforderung, in der Politik Fuß zu fassen und sich in der Gesellschaft zu verankern. Durch die zersplitterte Parteienlandschaft wird mit einer komplexen Koalitionsbildung gerechnet. Das endgültige Ergebnis wird spätestens am Donnerstag bekannt gegeben. Auch danach bleibt es spannend: Am 23. November folgen in Tunesien die Präsidentschaftswahlen und Ende des Jahres voraussichtlich die Präsidentschaftsstichwahlen.
Foto: Parti Mouvement Ennahdha/ flickr, CC BY-SA 2.0