Lebende Museen in Namibia
Am vergangenen Montagabend, den 8. September, nahm Werner Pfeifer von der Living Culture Foundation Namibia die Besucher_innen des Afrika Hauses Berlin mit auf eine Reise in das heutige Namibia und ließ sie eintauchen in die Kultur der San.
Die Traditionen der Buschleute, wie sie sich selbst nennen, gehen in der Geschichte der Zeit weit zurück, sowie auch der Ursprung der genetischen Linie, von der sie abstammen. Vor etwa 180.000 Jahren spalteten sich die Buschleute in Afrika vom Homo Erectus ab. Als ein Teil der afrikanischen Bevölkerung nach Eurasien auswanderte, sich weiter aufspaltete und entwickelte, blieben die San im Süden Afrikas und isolierten damit ihre genetische Abstammung. Somit bilden sie eine der ältesten erhaltenen Bevölkerungsgruppen der Menschheit und behielten bis vor etwa hundert Jahren ihren Lebensstil als Jäger und Sammler bei. Heute findet man diesen ursprünglichen Lebensstil beinahe nur noch in den Lebenden Museen, die von der Organisation Living Culture Foundation Namibia zur Erhaltung der traditionellen Kultur und Wiederbelebung von Bräuchen und Sitten ins Leben gerufen wurden. Dabei handelt es sich gewissermaßen um Dörfer, in denen Gruppen der San auf traditionelle Weise zusammenleben. Diese sind für Außenstehende und somit auch Touristen zugänglich.
Die San sind „unglaublich schöne Menschen“, staunt Werner Pfeifer wahrscheinlich zum tausendsten Mal, als er das Foto einer San-Frau betrachtet. Die Frau trägt außer einen Lederschurz Unmengen von Perlenketten, mit kleinen Perlen aus den Schalen von Straußeneiern. Manchmal arbeiten die Frauen in den Museen den ganzen Tag daran, die winzigen Perlen mit einem kleinen Werkzeug in der Aushöhlung eines Steins aus den Schalen heraus zu stanzen.
Währenddessen gehen ihre Männer auf die Jagd, wobei sich die San nur zu 10 Prozent von der Jagd und zu 90 Prozent von Pflanzen ernähren. Dass sie in der Vergangenheit keine Auseinandersetzungen miteinander hatten, ist auf ihre Friedlichkeit und Genügsamkeit zurückzuführen. „Es wird alles geteilt“, so Pfeifer. Des Weiteren überschreiten sie niemals ihr Territorium. Nur in ihren Steinböckchenfellen bekleidet streift die Gruppe von Jägern stundenlang durch ihr Gebiet. Ihre Ausrüstung beschränkt sich auf ein funktionales Beil, außerdem auf einen Speer, dessen Spitze mit dem Gift einer Insektenlarve präpariert wurde. Von dem Gift hängt der Erfolg ihrer Jagd ab, doch es reichen schon winzige Moleküle, die in die Blutbahn gelangen, um ein Tier außer Gefecht zu setzen.
Um bei der Jagd die Tiere nicht zu durch laute Geräusche zu vertreiben, kommunizieren die Jäger in Zeichensprache miteinander, sogar über weitere Distanzen. Jedes Tier wird durch vollen Körpereinsatz pantomimisch dargestellt. Außerdem sind sie exzellente Spurenleser. „Sie waren exzellente Spurenleser“, korrigiert Pfeifer. Durch das langjährige Jagdverbot, das den San von der Regierung auferlegt wurde, und die neuen wirtschaftlichen Tätigkeiten, die viele von ihnen ausüben, verlernen sie ihre Fähigkeiten. „Heutzutage sind sie ganz schlechte Bogenschützen“, ergänzt Pfeifer ein wenig belustigt. Deswegen werden in den Lebenden Museen regelmäßig Bogenschützenturniere veranstaltet.
„Sie kennen ihr Territorium genau und verlassen sich bei der Jagd nur auf ihr Gehör und ihren Geruchsinn“, erklärt Pfeifer. Er erzählt ein kleines Erlebnis, bei dem er mit einer Gruppe der Buschleute durch ihr Gebiet unterwegs war. Plötzlich rannte eine Frau auf ein paar mikroskopisch kleine Grashalme in etwa sieben Metern Entfernung zu, und grub an der Stelle eine Wasserwurzel aus dem Boden aus. Das Erstaunliche sei auch, dass die Buschleute sich jede Stelle ihres riesigen Gebiets genau merken und auch nach Jahren ohne langes Überlegen wiederfinden können.
Ein guter Jäger zu sein ist bei der Partnerwahl der Buschleute immer noch ein ausschlaggebendes Kriterium und geht auf eine außergewöhnliche Tradition zurück. Ist ein Mann der Gemeinschaft an einer Frau interessiert, verfolgt er sie heimlich, wenn sie Sammeln geht. Er wartet geduldig, bis sie sich bückt, und schießt ihr dann einen Pfeil in den Hintern. Hat sie kein Interesse an dem Mann, zerbricht sie seinen Pfeil und wirft ihn weg. Anderenfalls bringt sie den Pfeil nach Hause zu ihren Eltern. Die beraten sich darüber, ob der Mann höflich, freigiebig und ein guter Jäger, und somit gut genug für die Tochter ist. Mit ihrem Einverständnis begeben sie sich zu den Eltern des Mannes, um die sogenannte Buschmannhochzeit zu planen. Nach der Zeremonie ist es Brauch, dass die Frau ihren frisch geheirateten Mann kratzt und beißt, während sie in ihre neue Hütte gezerrt wird. Damit zeigt die Tochter ihren Eltern, wie viel sie ihr bedeuten.
Ein paar weitere wissenswerte Fakten über das Zusammenleben: Die Erziehung der Kinder besteht darin, sie nicht zu erziehen. Die Kindheit ist geprägt von vielen Spielen, schöner Musik und gemeinsamen Tänzen. Wettkampfspiele gibt es nicht, denn „sie wollen nicht, dass Einer sich über die Anderen erhebt“. Haben zwei Personen den gleichen Namen, sind sie, gleichwertig mit einer Blutsverwandtschaft, Geschwister. Die San kennen in der Regel ihr Alter nicht und haben keine Angst vor dem Sterben. Wenn der Geist eines kürzlich Verstorbenen im Dorf einen Streit entfacht, oder eine Krankheit körperlicher oder psychischer Natur schickt, wird eine Zeremonie mit dem ganzen Dorf abgehalten, bei der ein Schamane sich in Trance versetzt und den Geist beschwichtigt. Währenddessen wird ununterbrochen geklatscht und getanzt.
Die indigene Sprache der Buschleute enthält 80 Variationen von Schnalz- und Klicklauten, die nur in kleinsten Nuancen unterschieden werden. Um diese und viele andere kulturelle Traditionen zu bewahren, wurden die Lebenden Museen gegründet. In der Gegenwart werden viele Bräuche nicht mehr ausgeübt, da die San ihre Fähigkeiten nicht mehr brauchen, um zu überleben. An ihre Stelle treten gewöhnliche Berufe. Das Wissen, das über viele Generationen weitergegeben wurde, droht in Vergessenheit zu geraten. Das nächste Projekt der Living Culture Foundation Namibia ist eine Berufsschule für die San, in denen die Alten ihre Traditionen wieder an jüngere Generationen weitergeben. Werner Pfeifer ist zuversichtlich. „Wir wollen eine Farm kaufen und die Buschleute dort ausbilden. Wir machen weiter.“